Mutter

Der Keller meiner Mutter

Anthropologisch wird der Mensch der Frühzeit oft in Jäger und Sammler eingeteilt, und es ließe sich darüber streiten, ob man die Menschheit bis heute in einer ähnlichen Form klassifizieren könnte. Heutzutage leben Jäger und Sammler aber eigentlich eher in Personalunion und die hervorstechendste Subspezies des Homo sapiens in dieser Hinsicht ist der Flohmarktgänger. Mit anderen Worten: Ein Jäger der Schnäppchen und Sammler von Tinnef und altem Scheiß, den man eigentlich nicht braucht. Und ich selber stamme aus so einer Familie von Jägern und Sammlern.

Schon vor meiner Geburt waren meine Eltern wohl der Sammelleidenschaft erlegen. Gerade mein Vater hatte eine Plattensammlung, die man mit Recht „stattlich“ nennen konnte. Gemeinsam hatten sie wohl einen Faible für Bücher, wobei ich nicht Romane meine, sondern Bücher, die sich sachlich mit allen möglichen Themen auseinandersetzen. Das half mir später in der Schule, da ich als prä-Internet-Kind kaum mal eine Bibliothek bemühen musste. Wir hatten ja alles daheim. Ich brauchte nur meine Eltern zu fragen, die mir dann sagen konnten, dass wir in da in der obersten Reihe, so mittig neben den in Leder eingebundenen Asterix-Bänden, ein Buch über kanadische Holzfäller hatten. Nein, mir ist auch bis heute nicht klar, weswegen wir a) ein Buch über kanadische Holzfäller hatten und b) ich ein Buch über kanadische Holzfäller brauchte. In der Regel gaben sie mir die gesuchten Bücher herunter, wobei der Kommentar „Ist vermutlich ein wenig staubig“ nicht fehlte.

Meine Mutter behauptet bis heute, dass sie nie wirklich die Sammlerin gewesen ist. Sie schwört Stein und Bein, dass die Anhäufung von Nilpferden aus Plüsch, Stein, Plastik, Hack und Gurke sich nur durch Zufall angesammelt hat. Von den ganzen Werbe- und Swatch-Uhren ganz zu schweigen. Und alles, was nicht irgendwie zur Schau gestellt wurde, fristete sein Dasein in diversen Schränken oder im Keller, der mit der Zeit kaum noch begehbar war, weswegen ich als Jugendlicher das Fahrradfahren irgendwann aufgab, weil ich nicht jedes Mal mit dem Schneidbrenner mein Fahrrad aus all dem anderem Kram hervorholen wollte.

In den Zeiten, in denen ich noch bei meinen Eltern wohnte, war ich Teil des Wochenendrituals, dass uns zwar glücklicherweise nicht zu unchristlichen Zeiten in die Kirche schickte, aber auf diverse Trödelmärkte, die sich in nahezu allen Bezirken der Stadt Berlin fanden. Und früher oder später erlag auch ich dem Sammlerfieber. Ich brachte es auf enorme Sammlungen von Autogrammen, Coca-Cola-Memorabilia und Modellautos. Später, während und nach der Pubertät, verlagerte sich das Ganze bei mir aber mehr in Richtung Musik und Filme.

Noch später, als ich allein wohnte, fuhr ich die Sammlerei stark herunter. Ich bewohnte bereits allein eine Drei-Zimmer-Wohnung, in der quasi kein Platz mehr war, und musste mir irgendwann eingestehen, dass die Sammelleidenschaft nicht normal war. Besonders als ich mit meiner damaligen Freundin zusammenziehen wollte und sie mich fragte, ob sie auch irgendwas von ihrem Kram mitbringen könnte.

Auch meine Mutter fuhr irgendwann nach dem Tod meines Vaters das Sammeln stark zurück, tendierte aber dazu, alles aufzuheben. Ein Haufen Skier, die mein Vater mal mitgebracht hatte, als er für zwei Wochen Anfang der 80er in einer Ski-Bude gearbeitet hatte, stand im Keller. Der Couchtisch, den wir irgendwann mal gegen einen Neuen ausgewechselt hatten … könnte man ja vielleicht noch mal gebrauchen. Also ab in den Keller. So wie auch Dinge, die Bekannte loswerden wollten, in denen meine Mutter aber noch das Potential für spätere Brauchbarkeit erkannte. So stapelten sich im Keller meiner elterlichen Wohnung neben den besagten Skiern und Tischen, Dinge wie Koffer, Taschen, Rücksäcke sowie der Vogelkäfig unseres Papageis, der vor 25 Jahren gestorben war.

Das alles mag so klingen, als würde es bei meiner Mutter oder mir daheim so aussehen, wie in einer der Messie-Wohnungen, die im Reality-TV gezeigt werden. Aber so ist das nicht. Sowohl bei meiner Mutter als auch mir kann man durch die Zimmer gehen und sich normal bewegen. Man braucht nicht die Hilfe einer Handgranate, um aufzuräumen. Es riecht auch nicht wie im kleinen Raubtierhaus und man braucht auch keine Angst davor zu haben, sich mit Pest oder Cholera anzustecken oder gar von einer mutierten Ratte angefallen zu werden, welche die Größe eines Elefantenbabys hat. Aber – ja – wir haben sehr viel Kram.

Trotzdem erstaunt es mich immer wieder WAS für Kram meine Mutter hat. Als meine Frau und ich vor geraumer Zeit zwei Katzenmädchen kauften, überlegten wir, wie wir die nach Hause bringen sollten.

„Na, warte mal“, sagte meine Mutter. „Ich müsste im Keller noch eine Transportkiste haben.“

„Wat?“, sagte ich, denn ich wüsste nicht, wofür sie jemals eine Transportkiste für Tiere hat brauchen können. Sie hat zwar zwei Hunde, aber Hunde laufen in der Regel selber, wenn man sie z.B. zum Tierarzt bringt. Bei Katzen ist das schon eher ein Problem.

„Ja, die habe ich noch von der Alten mit dem nervösen Pinscher, die da auf der anderen Seite des Hofs gewohnt hat.“

„Und warum hast du die überhaupt? Nicht, dass ich mich beschweren will, denn wir können die ja brauchen.“

„Na, aus genau diesem Grund. Die war noch gut und ich dachte, man könnte sie vielleicht noch mal brauchen. Ist vermutlich nur ein wenig angestaubt.“

Irgendwann meinte meine Frau mal beiläufig, dass sie einen Spiegel im Schlafzimmer gebrauchen könnte, um tatsächlich mal sehen zu können, wie eine Klamottenkombination aussieht.

„Ich glaube, ich habe noch einen Spiegel im Keller“, meinte meine Mutter. „Der ist bestimmt so einen Meter fünfzig hoch.“

„Was? Wo kommt denn der her?“, fragte ich.

„Der gehörte zu den Schlafzimmerschränken. Haben wir aber nie angemacht, weil wir es nicht brauchten. Also kam er in den Keller.“
Der Spiegel musste also auch schon mindestens dreißig Jahre im Keller stehen.

„Wir können ja mal kurz runtergehen“, sagte meine Mutter. „Der ist bestimmt nur ein wenig angestaubt.“

Also gingen wir in den Keller und tatsächlich stand da in einer Ecke mit irgendwelchen Holzteilen, von denen ich lieber nicht wissen wollte, zu was sie gehörten, ein großer Spiegel.

„Braucht ihr noch einen Koffer?“, fragte meine Mutter.

„Nein“, sagte ich. „Wir könnten höchstens noch eine Tasche gebrauchen, weil die, die wir haben, schon vollkommen ausgebufft und abgelascht sind.“

„Na, mach doch mal den Koffer auf“, erwiderte sie und als ich es dann tat – voilà – fand ich darin ein paar Taschen und Rucksäcke. „Falls ihr noch Knackfolie braucht, um den Spiegel für den Transport einzuschlagen, die müsste da irgendwo in der Ecke stehen.“

„Ich glaube, es geht schon“, sagte ich.

Meine Frau schüttelte nur fasziniert den Kopf.

Noch mehr als über das, was im Keller stand und steht, wundere ich mich eigentlich immer darüber, dass es überhaupt da rein passt. Der Keller hat ja nicht die Größe von Liechtenstein, sondern ist so fünf bis sechs Quadratmeter groß. Irgendwann, nachdem ich die Harry-Potter-Bücher gelesen hatte, kam ich zu dem Schluss, dass meine Mutter eine Hexe sein musste, die wie Hermine Granger einen Zauberspruch angewendet hat, um es dort geräumiger zu machen. Warum sie das allerdings nicht bei unseren Wohnungen tat, wird mir immer ein Rätsel bleiben.

Ich bin mir nicht sicher, was meine Mutter nicht im Keller hat. Ich befürchte, dass ich irgendwann mal in den Tauchurlaub nach Ägypten fahre, und meine Mutter mir sagt, dass sie da noch ein Unterseeboot im Keller hat, das nur ein wenig angestaubt ist. Hat sie vermutlich von irgendwelchen Nachbarn, die mal Tiefseeforschung oder so betrieben haben. Was weiß ich. So typische Leute, die in einer Sozialbauwohnung in Berlin-Spandau leben, halt.

Neulich kam meine Frau an und meinte, dass unser – ich zitiere – „Sandwich-Waffeleisen oder wie auch immer man das Ding nennt, mit denen man Sandwiches so zusammenpappt“ – Zitat Ende – kaputt ist. Brauchen wir wohl ein Neues, dachte ich. Dann fiel mir ein, dass meine Mutter vielleicht noch so ein Teil im Keller hat. Also rief ich sie an.

„Klar, habe ich noch“, sagte sie.

„Im Keller?“, fragte ich.

„Nein, müsste ich irgendwo im Küchenregal haben. Brauche ich ja nicht mehr.“

„Vielleicht können wir das mitnehmen, wenn wir das nächste Mal vorbeikommen.“

„Sicher. Suche ich raus und stelle ich hin.“
Wir sprachen noch eine Weile über dies und jenes und ich erzählte ihr, dass wir demnächst mal auf den Trödelmarkt gehen wollten, weil zumindest ich etwas von meinem Kram loswerden will.

„Ich hätte da auch noch das ein oder andere“, sagte meine Mutter.

„Ach, was?“, erwiderte ich.

„Im Keller sind noch die ganzen Kisten mit deinen doppelten Modellautos.“

„Ach, ja“, sagte ich, denn ich hatte bisher erfolgreich verdrängt, dass ich nicht nur noch einen Haufen Modellautos hatte, sondern auch noch etliche davon doppelt, denn die könnte man ja zum Tauschen benutzen. „Die müssen wahrscheinlich noch warten“, sagte ich. „Zunächst mal wollen wir den Kram von uns loswerden. Hast du vielleicht noch einen Tapeziertisch, den wir auf dem Trödelmarkt nutzen könnten.“

„Klar“, sagte meine Mutter.

„Im Keller?“, fragte ich.

„Natürlich. Braucht ihr auch noch ein paar Hocker dazu?“

„Ja, wäre sicher auch angenehm dort eine Sitzmöglichkeit zu haben.“

„Da habe ich auch noch zwei im Keller“, sagte meine Mutter und fügte dann den passenden Satz hinzu, auf den ich die ganze Zeit nur gewartet hatte: „Sind vermutlich nur ein wenig angestaubt.“